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Mediation bei gestörten Beziehungen

Mediation nur als „Helden-Notausgang“ bei toxischen Beziehungen?

Mediation gilt als Königsweg, um Konflikte zu lösen und dabei eine gute Beziehung zwischen den Beteiligten zu erhalten. Wie lässt sich Mediation nun aber nutzen, wenn gerade die Beziehung das Hauptproblem darstellt? Kann Mediation überhaupt funktionieren, wenn moderne neurowissenschaftliche Erkenntnisse den „Wendepunkt in der Mediation“ infrage stellen? Die Verfasser geben dazu Ansatzpunkte aus der Praxis.

Karsten Engler und Rainer Wawrzik

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Ein oft genannter Vorteil von Mediation gegenüber an-deren Konfliktlösungsverfahren, insbesondere Gerichts-verfahren, ist neben der Schnelligkeit auch der Erhalt der entsprechenden Beziehung. Dies gilt insbesondere für wichtige Lieferbeziehungen, genauso wie für Beschäftigungs-, Führungs- als auch familiäre Beziehungen.
Nun zeigt aber die Mediationspraxis, dass es häufig eben diese Beziehung ist, die zwar erhalten werden soll, im bestehenden Zustand aber nachhaltige Lösungen verhindert oder sogar Kern des Problems ist. Mit diesem Paradoxon beschäftigt sich dieser Artikel.
Abbildung 1 zeigt verschiedene Mediationsfälle nach Bedeutung des Beziehungserhalts sowie Konfliktbeitrag der bestehenden Interaktion. Nach Einschätzung der Autoren wird die hier definierte „Interaktions-Mediation“ mit Abstand am häufigsten durchgeführt – dies schließt die Wirtschaftsmediation explizit mit ein.

Kernmechanismus der Mediation außer Kraft gesetzt

Ein Kernelement der Mediation ist es, etwaige Emotionen in den Prozess zu integrieren und einen Wendepunkt in der gemeinsamen Arbeit zu schaffen: von einem Gegeneinander zu einem Miteinander. Die Idee dahinter: Auf dieser Basis können dann gemeinsam Lösungen entwickelt werden.
Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Beziehungsebene in einem geschickt moderierten Prozess im Dialog neu ausrichtet. Die Erfahrung zeigt, dass dies bei einigen Beziehungskonflikten möglich, bei bereits länger andauernden Auseinandersetzungen, bei denen sich ungünstige gegenseitig verschränkte feste Verhaltensmuster gebil-det haben, aber nahezu ausgeschlossen ist. Gleiches gilt für Mediationsteilnehmer, deren Interaktionsprägungen eher kontraproduktiv bezüglich des im Kern der Mediation stehenden Modells des Interessensausgleichs sind (z. B. die Gesinnung „Ich will gewinnen.“).

Fallbeispiel 1:

Einer der Autoren begleitete erst kürzlich eine Konfliktlösung zwischen zwei Wirtschaftsverbänden, die eng miteinander verflochten sind. Die handelnden Personen in den Leitungs-funktionen der Verbände kennen sich seit vielen Jahren. Auf-grund enger Terminpläne musste die Mediation in Blöcke von jeweils vier Stunden aufgeteilt werden. Zwei erste Termine wurden festgelegt.
Nach aufschlussreichen und positiven Vorgesprächen mit viel Einigungspotenzial gelang es in der ersten Sitzung, alle Themen zu identifizieren und gleichzeitig das erste Thema – Verbesse-rung der täglichen Kommunikation – zu konkretisieren und eine gemeinsame Vereinbarung zu treffen. Alle gingen mit einem guten Gefühl aus der Sitzung.
Dann kam es zum „Lackmustest“: Nur wenige Tage nach der ersten Sitzung bat eine Seite um eine zeitliche Verschiebung des zweiten Termins um eine Woche. Was folgte, war eine hoch emotionale E-Mail-Kommunikation, im Zuge derer viele weitere Personen involviert wurden und ein sehr aggressiver Ton aufkam, der als Rückfall in alte Muster gewertet werden konnte. Entgegen allen Vereinbarungen griff niemand zum Telefon, um ein persönliches Gespräch zu führen.
Ein Aufgreifen des Sachverhalts in der nachfolgenden Sitzung führte zu einer noch stärkeren emotionalen Zuspitzung, wes-halb die zweite Sitzung schlussendlich abgebrochen werden musste.

Nach Auffassung der Verfasser bedarf es zur wirksamen Mediation einer solchen Konstellation dreier Elemente, die in einer klaren logischen Abfolge stehen (vgl. Abb. 2).

Insbesondere Coaching-Aspekte sind im Hinblick auf intuitives Verhalten, Haltung und Grundüberzeugungen vor dem eigentlichen Prozess des Interessenausgleichs anzugehen.Sowohl das Coaching als auch der Interessenausgleich sind eingebettet in den multilateralen Aufbau von Vertrauen – zwischen dem Mediator und den einzelnen Medianden (Einzelsynchronisation) sowie zwischen den Medianden untereinander (Gruppensynchronisation).

Was einem in der Lösung wirklich wichtig ist

Die Kernaussage der modernen Neurowissenschaft so-wie von Verhaltensökonomen wie Daniel Kahneman lautet: Unser Unterbewusstsein mit seinen intuitiven Handlungsimpulsen („System 1“) ist der Haupttreiber unseres Verhaltens, unser Verstand („System 2“) möchte uns jedoch gern etwas anderes glauben lassen.

Sehr deutlich wird das auch bei der Frage, welche „Grundhandlungswerte“ dem Einzelnen wirklich wichtig sind. Eine Teilnehmerin einer Mediation formulierte es einmal mit diesen Worten: „Ich kann mir zwar jeden Morgen mit dem gezielten Gedanken Trost spenden, dass ich viel Schmerzensgeld verdiene, glücklich macht mich das aber nicht. – Und der Ausblick, dies für weitere 20 Jahre zu tun, ist nicht erquickend.“

Legt man ein bewährtes Verhaltensmodell – z. B. mit neun Treibern (vgl. Abb. 3) – zugrunde, zeigt die Erfahrung aus unzähligen Gesprächen, dass ein kognitives Urteil zu den Dingen, die einem wichtig erscheinen, selten mit den Dingen übereinstimmt, die bezogen auf das Bauchgefühl (somatische Intelligenz) wirklich intuitiv verhaltensbestimmend sind.

Warum das wichtig ist? Für die nachhaltige Tragfähig-keit einer Lösung ist es entscheidend, ob typische emo-tionale Aspekte wie Flexibilität (Freiheit) oder Verlässlichkeit (Sicherheit) für den Einzelnen wirklich relevant sind. Verschärfend kommt hinzu: Nach Erfahrung der Autoren weichen bei den streitenden Parteien die Top-drei-Aspekte ihrer Kopf-Entscheidung in aller Regel von den drei wichtigsten Aspekten ihrer Intuition (somati-sche Intelligenz) grundlegend ab. Letztere steuern jedoch die Zufriedenheit im Unterbewusstsein.

Schritt 1: Interaktionsmuster durchbrechen

Die roten Knöpfe bei den Medianden ermitteln

Nicht selten beginnen Vorgespräche im Rahmen einer Mediation mit Formulierungen wie: „Wenn ich ihn/sie schon sehe, dann …“. In anderen Worten: Es haben sich bereits be-stimmte Reiz-Reaktions-Muster etabliert, bei denen die Betroffenen einander quasi ständig auf „rote Knöpfe“ drücken. Damit machen sie eine nachhaltig gelebte Lö-sung, wenn nicht sogar bereits jedes konstruktive Ge-spräch, nahezu unmöglich. Zudem werden auf der jewei-ligen Gegenseite so starke Emotionen ausgelöst, dass sie jede Form des kognitiven Denkens massiv erschweren oder gar verhindern. Daher gilt es, vor dem Einstieg in die Mediation zunächst herauszufinden, welche Verhal-tensmuster die Medianden besonders triggern. Ein sol-ches Verständnis hilft auch zu unterscheiden, ob eine Ablehnung sich gegen einen inhaltlichen Aspekt oder gegen die andere Person als solche richtet.

Reibungstypen ermitteln

Ein weiteres hilfreiches Instrument im Vorfeld einer Interaktions-Mediation ist das sogenannte Thomas-Kilmann-Modell. In der Praxis hat sich die Fokussierung auf diejenigen Elemente bewährt, die eine Win-win-Lösung bei intuitivem Verhalten erschweren: Durchsetzen der eigenen Sicht, schnelles Nachgeben oder die Vermeidung der Auseinandersetzung. Gemeinsam mit den oben genannten Verhaltenstreibern ergeben sich wertvolle Ansatzpunkte für eine dauerhafte Verbesserung der Interaktion auch über den unmittelbaren Prozess des Interessenausgleichs und dessen Vereinbarungen hinaus.

Abbildung 3 zeigt beispielhaft das Profil zweier Medianden aus einem Praxisfall: Beide agieren in Auseinandersetzungen intuitiv vor allem hochdominant („Durchsetzen“) und werden in ihrem Verhalten durch unterschiedliche Grundmotive (Basis: Leitwerte nach Adrian Schweizer) beeinflusst: Während Person B zum Beispiel Flexibilität (Freiheit) und Selbstwirksamkeit sehr wichtig sind, dominieren bei Person A Sicherheit und Integrität. Dies erklärt einen zentralen Konfliktmechanismus zwischen den beiden: Die eine Person ändert zugunsten der Sache gern kurzfristig Vereinbarungen (Freiheit), während die andere Person darauf sehr negativ reagiert (Verletzung von Sicherheit und Integrität).

Am Selbstbild arbeiten

Neben der bilateralen Reflexion zwischen Mediator und Mediand (kognitive Ebene) dienen insbesondere drei Ansatzpunkte auf somatischer Ebene dazu, das Gespräch über den Interessenausgleich gezielt vorzubereiten und die Nachhaltigkeit von Vereinbarungen zu sichern:
o Einführung in konkrete Methoden, um die eigenen reflexartigen Verhaltensweisen zu unterbrechen
o Arbeit am dahinterliegenden Selbstverständnis (ICH-Bild)
o Schaffung von Erleichterungen im Hinblick auf ungünstige Reaktionsmuster durch pointierte neue „Lernprozesse“

Insbesondere Techniken zur Dis-Assoziation in bestimmten Situationen haben sich bewährt, um Emotionen zu reduzieren und bewusster auf Basis der gewonnenen inhaltlichen Erkenntnisse des Interessenvermittlungsprozesses agieren zu können. Das soziale Panorama nach Dr. Lucas Derks bildet eine gute Grundlage zur Arbeit am Selbstbild in entsprechenden Interaktionen mit der anderen Seite. Zur Abschwächung der Reaktionsmuster wird dies durch ressourcenbasierte Stärkung der entsprechenden Person im Rahmen gezielt erzeugter neuer Erfahrungsprozesse ergänzt.

Schritt 2: Glaubenssätze über Konflikte verändern

Zudem ist es wichtig, den Streitparteien eine andere Überzeugung im Hinblick auf Konflikte zu vermitteln. Erfahrungsgemäß haben über zwei Drittel der Menschen seit ihrer Kindheit unbewusst ein Konfliktmodell im Hinterkopf, bei dem es ausschließlich um die Verteilung von etwas Vorgegebenem (z. B. ein bestimmtes Gut) oder die Integration verschiedener Ideen durch Kompromisse geht – also ein Modell, bei dem keine Seite vollständig das bekommt, was sie möchte. Zu erfahren, dass durch intelligente Ermittlung von Interessen nahezu 100 Prozent dessen, was allen Beteiligten wichtig ist, realisiert werden können, wird daher fast durchgängig als zentraler Erkenntnisgewinn wahrgenommen.

Verschiedene Konfliktsituationen mit der Gegenpartei unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, erzeugt in der Regel zusätzliche Einsichten und bereitet das gemein-same Gespräch gut vor.

Schritt 3: Interessenausgleich in gemeinsamer Demut

Insbesondere bei sehr zerstrittenen Konfliktparteien dürfen die Erwartungen der Parteien an eine erste Vereinbarung nicht hoch gesteckt werden. Medianden, denen die oben angesprochenen Aspekte nicht bewusst sind, haben naturgemäß sehr hohe Ansprüche an das Lösungspotenzial in der gegebenen Zeit. Dies ist häufig kontraproduktiv. Durch die oben beschriebenen Vorgespräche gelingt es, sozusagen als „Nebenprodukt“ eine höhere Zufriedenheit bei ersten pragmatischen Vereinbarungen zu erreichen, sodass dem Vertrauensaufbau durch einfache Vereinbarungen eine echte Chance gegeben wird.

Häufig lässt sich dann in einem zweiten Termin eine Vielzahl von Themen sehr einfach abarbeiten. Die Hauptherausforderung bleibt allerdings: als Mediator über ausreichend Erfahrung und Rückgrat zu verfügen, diese besondere Art von Vorgesprächen zu empfehlen, gegebenenfalls für eine Mediation sogar darauf zu bestehen. Häufig hilft hier die Vermeidung des Begriffes „Coaching“.

Fallbeispiel 2:

Einer der Verfasser wurde im vergangenen Jahr durch den Geschäftsführer eines mittelgroßen Unternehmens gebeten, mit einer Mitarbeiterin an deren persönlicher Weiterentwicklung zu arbeiten, da sie „nicht interaktionsfähig“ sei. Mehrere Mitarbeiter hätten das Unternehmen wegen ihr bereits verlassen, sie sei aber eine sehr fähige Kraft, auf die die Geschäftsleitung nicht verzichten wolle – obwohl es in ihrem Umfeld immer wieder zu intensiven Auseinandersetzungen und aggressiver E-Mail-Korrespondenz käme. In Vorgesprächen mit den Interaktionsschnittstellen wurde dieser Eindruck bestätigt und um den Hinweis ergänzt, dass zu einem gemeinsamen Gespräch keine Bereitschaft bestünde, da man dem keine Chance einräume und auch kein Interesse daran habe, sich im Termin beleidigen zu lassen.

In vier individuellen Entwicklungssitzungen wurden die skizzierten Themen mit der Mitarbeiterin bearbeitet. Zu Beginn der dritten Sitzung gab sie ungefragt das sehr positive Feedback: „Dank Ihnen habe ich zum ersten Mal eine entspanntere Wo-che gehabt, in der es mir gelungen ist, mich in Meetings auch einmal zurückzunehmen und zuzuhören.“

Nach den vier Sitzungen regte die Mitarbeiterin an, Mediationsgespräche mit den Schnittstellen-Personen zu führen. Das erste Gespräch mit insgesamt fünf Personen war ein so großer Erfolg, dass sich für die gleiche Runde ein zweites Gespräch anschloss und der Kreis danach auf acht Personen erweitert wurde, um den positiven Impuls weiterzutragen.

Fazit

„Bis zu diesem gemeinsamen Termin haben wir uns, glaube ich, schon deutlich weiterentwickelt. Die letzten Wochen waren durchaus ok.“ Ein solches Feedback hören Mediatoren nicht selten bei Anwendung des hier beschriebenen Ansatzes. Es zeigt: Der bereits oben angesprochene „Wendepunkt in der Interaktion“ wurde tatsächlich möglich und liegt zeitlich zudem deutlich weiter vorne. Entsprechend nutzen die Medianden die Zeit im gemeinsamen Mediationsgespräch viel produktiver, um ihre künftige Zusammenarbeit zu gestalten.

Gleichzeitig geht das vorgestellte Vorgehen konsequent den durch die Mediation eingeschlagenen Weg zur Konfliktlösung weiter: Lösung nicht „autark“ durch Dritte, sondern maßgeblich durch Mitwirkung der Beteiligten. Diese schließt hier die Arbeit an eigenen Verhaltensmechanismen ein.

Schlüsselbegriffe:
Konfliktlösung, Mediation, gestörte Beziehungen, emotionale Konflikte, Beziehungsstörung, Streit, Führungskonflikte, Teamkonflikte, Zusammenarbeit, Vorgespräche, Coaching in der Mediation, Konflikte am Arbeitsplatz, Konfliktkompetenz

Keywords:
Conflict resolution, mediation, emotional conflicts, relationship disorders, arguments, leadership conflicts, team conflicts, collaboration, upfront discussions, coaching in mediation, conflict competency

 

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