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Agilitätsreife

Plötzlich beweglich

Ein forderndes regulatorisches Umfeld, Wettbewerb durch Fintechs oder Umbau der Vertriebswege: Banken und Versicherer stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund ist die Commerzbank Mitte 2019 in signifikantem Umfang in eine agile Struktur übergegangen. Gerade mit Blick auf Team- und Konfliktmanagement können Versicherer daraus lernen.

Von Dr. Karsten Engler

Das agile Arbeiten – in der Regel in Verbindung mit der Scrum-Logik – ist in aller Munde und löst vielfach das traditionelle, eher lineare und langfristig starr planende Arbeiten in Projekten ab. In den Vordergrund treten insbesondere Prinzipien der Eigenverantwortlichkeit von Teams, inkrementelles Arbeiten und eine enge Einbindung von Kundenfeedback.

Radikale Transition zur agilen Struktur in der Commerzbank Zentrale

Die Commerzbank AG ist Mitte 2019 einen radikalen Schritt gegangen und hat ihre Struktur für einen Teil der Zentrale auf eine agile Organisation umgestellt. Konkret gingen alle Einheiten, die in der Zentrale Verantwortung für IT-Systeme haben, in eine neue Struktur aus 54 Clustern über. In Summe sind dies etwa 5.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Fach- und IT-Einheiten. Grundlage ist das bei Spotify entwickelte Strukturmodell, das für die Commerzbank an einigen Stellen spezifisch ausgestaltet wurde (vgl. Abb. 1).

[Abbildung 1: Strukturmodell der Cluster-Lieferorganisation der Commerzbank-AG]

Wesentliche Kernelemente sind die Bündelung von Fach- und IT-Know-How in hierarchiefreien Teams mit zirka 10 Mitarbeitern (Cell), die Trennung von fachlicher und disziplinarischer Führung („Product Owner“ und „Chapter-Leads“) sowie Bündelung von Themen in einer Einheit mit bis zu 100 Mitarbeitern (Cluster).

Koordinations- und Konfliktkosten einer Transition

Aus Sicht eines Change-Management bringen unterschiedliche Organisationen unterschiedliche starke Voraussetzungen für den Erfolg einer solchen Transition mit. Diese Form der Reife zeigt sich insbesondere darin, inwieweit den gewonnenen Flexibilitätsvorteilen zusätzliche Koordinations- und Konfliktkosten gegenüberstehen.
Abbildung 2 stellt den beschriebenen Zusammenhang illustrativ dar. Einem bestimmten Anteil agiler Teams lassen sich entsprechende Koordinationskosten sowie über die Anzahl Konflikte und etwaiger Konflikt-Eskalationen spezifische Konfliktkosten zuordnen. Eine Erhöhung des Anteils agiler Teams (Pfeil in Abbildung 2) bewirkt eine entsprechende Veränderung der Kosten.

[Abbildung 2: Effizienzmodell der agilen Transition]

Selbstverständlich verändern sich die Auswirkungen über den Zeitverlauf. Durch das „Einüben“ seitens der Organisation reduzieren sich die Koordinations- und Konfliktkosten im Regelfall. Allerdings setzt das aktuell sowohl für Banken als auch Versicherer herausfordernde Umfeld dem Trial & Error – Prozess für die Finanzdienstleister enge Grenzen, so dass bereits bei Umsetzung eine hohe Reife erforderlich, das Zielmodell gegebenenfalls an die Voraussetzungen des jeweiligen Unternehmens anzupassen, beziehungsweise die Transition durch gezielte Maßnahmen zu begleiten ist.

Koordinationskosten gezielt zu Koordinationsgewinnen machen

In Unternehmen mit einer hohen „Agilitätsreife“ verfügen die meisten Teams über einen hohen Leistungsgrad und eine entsprechende teamorientierte Kultur, so dass eine Steigerung des Anteils agiler Teams aufgrund von Produktivitätsgewinnen und hoher Selbstregulation zu Kostensenkungen führt. Abbildung 2 steht damit eher für den Fall einer geringen Reife (steigender Anteil bedingt steigende Kosten).
Was determiniert den entsprechenden Effekt und welche Maßnahmen lassen sich im Vorfeld und während einer Transition ergreifen? Haupttreiber sind die individuellen und teambezogenen Kompetenzen der Mitarbeiter. Bei den individuellen Kompetenzen sind es insbesondere Aspekte wie Pragmatismus, Zielorientierung und Verantwortungsbereitschaft. In Hinblick auf die Arbeit im Team spielt für die Erreichung eines hohen Leistungsniveaus insbesondere die Fähigkeit zum Ausgleich von Interessen eine Rolle. Diese Ausgleichsfähigkeit ist im Fall der hier angesprochenen agilen Organisation umso wichtiger, als Mitarbeiter aus unterschiedlichen Organisationsbereichen – fachlichen und IT-bezogenen Bereichen – mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen, organisationskultureller Prägung und persönlichen Hintergründen zusammenkommen. Oftmals sind darunter auch Mitarbeiter, die bislang sehr wenig Projekterfahrung haben, da in der Vergangenheit häufig nur ein kleiner Kreis von Leistungsträgern in wichtige Projekte einbezogen wurde. Der reine Blick auf formelle Qualifikationen wie Zertifizierung als Projektleiter reicht hier in der Regel auch nicht aus, da die praktische Erfahrung maßgeblich ist.
Die Commerzbank hat die individuellen und persönlichen Kompetenzen der Mitarbeiter sowie eine entsprechende Unternehmenskultur über ihren Weg hin zur agilen Struktur erfolgreich sukzessive entwickelt: Bereits nach der Integration der Desdner Bank 2010 wurden Prozesse ganzheitlich („end-to-end“ (E2E)) aus Kundensicht optimiert und dabei eine funktionsübergreifende Zusammenarbeit initiiert. Im zweiten Schritt führte dann die Gründung des „digitalen Campus“ im Jahr 2016 zu einer Verbreiterung des interdisziplinären Austauschs und zusätzlich zur Einführung der agilen Arbeitsweise. Als zusätzliche Unterstützung der jetzt vorgenommenen Transition wurden den Clustern Scrum Master und Agile Coaches zur Seite gestellt. Insbesondere in der Ausbildung der Agile Coaches wurde neben der fachlichen Ausbildung Wert auf die Ausbildung von Change-Agent-Kompetenzen gelegt.
Zusätzlich wurde vom Verfasser das Format einer unterstützenden Team-Mediation eingesetzt. Ziel war es, über einen unterstützten Interessenausgleich Teams von einem bereits zufriedenstellenden Leistungsniveau auf ein noch besseres Niveau zu heben. Die durch die Teams benannten neuralgischen Themen – Entscheidungsfindung, Workload-Steuerung, Themen-Allokation sowie der Umgang miteinander – zeigen die Wichtigkeit einer systematischen Abstimmung zu den neuen Arbeitsmechanismen. Sie ist Teil eines teamindividuellen Change-Managements, da die klassische übergreifende Change-Analyse aufgrund der Verschiedenartigkeit der Veränderung für jeden Einzelnen an seine Grenzen stößt.
Ein weiterer Aspekt ist im Blick zu halten: Nicht jede Konstellation ist für agiles Arbeiten geeignet. Eine Ausweitung beispielsweise auf Problemstellungen mit klaren Ergebnissen, wenig Bezug zu dynamischen Kundenbedürfnissen und fest vorgegebenem Vorgehen führt eher zu Effizienzverlusten. Im Fall der Commerzbank beschränkt sich die agile Organisation daher auf diejenigen Bereiche, in denen IT-Entwicklung stattfindet. Eine Ausweitung über diese hinaus ist für jeden Einzelfall zu prüfen. Basis ist eine Betriebsvereinbarung, die die selektive Anwendung agiler Prinzipien für die Zentrale ermöglicht.

Die richtigen Konflikte fördern

Die Anzahl der Konflikte im Sinne der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Sichten, Interessen oder Vorschlägen steigt mit dem Anteil der agilen Teams, da im Gegensatz zur Linienorganisation der Selbstorganisationsanteil steigt und gleichzeitig die reine Erfüllung vordefinierter Rollen in den Hintergrund tritt. Eine hohe Agilitätsreife zeichnet sich dabei nicht durch die verringerte Anzahl von Konflikten, sondern durch den Unterschied in der Art der Konflikte aus. Eine vermeintlich „flachere Kurve“ ist häufig eher ein Anzeichen dafür, dass entweder i) weiterhin direktiv geführt wird, ii) Konflikte vermieden werden oder iii) latente Konflikte vorliegen – alles drei ist zu vermeiden. Stattdessen ist eine offene Auseinandersetzung in Hinblick auf inhaltliche Themen, Feedback oder die Umsetzung eigener Interessen in der Zusammenarbeit angestrebt, um wirksame und produktive Teams zu formen.
Um die genannten „unproduktiven“ Arten der Auseinandersetzung zu vermeiden, ist an der Konfliktkultur sowie der gezielten Change-Begleitung für die neuen Rollen in der agilen Struktur anzusetzen. Vielfach hört man, dass die Konfliktkultur schwer greifbar ist. Das gleiche galt jedoch lange Zeit auch für die Compliance-Kultur. Während letztere mit einer Vielzahl von Maßnahmen – von Online-Schulungen, Artikeln im Firmen-Intranet bis hin zu Hinweisplakaten – vielfach erfolgreich entwickelt wurde, sind bislang nur wenige Finanzdienstleister einen vergleichbaren Weg für den Umgang mit Auseinandersetzungen gegangen. Auch heute lässt sich in vielen Großorganisation noch eine Neigung zur Behandlung von Auseinandersetzungen durch einseitige Vorgaben, politische Prozesse oder Verdrängung beobachten. Die Neigung zur Verdrängung ist dabei zunächst unabhängig von Alter und Position. Abbildung 3 zeigt beispielhaft die Konfliktvermeidungsneigung in einer Einheit von 100 Mitarbeitern einer Bankeinheit. Auf einer Skala von 0 (gering) bis 10 (hoch) zeigt sich für eine Stichprobe, , dass die Tendenz zur Konfliktvermeidung signifikant vorhanden ist. Dies gilt trotz der Tatsache, dass in diesem Fall weit über 3/4 der Mitarbeiter eine Betriebszugehörigkeit unter 10 Jahren und ein Durchschnittsalter deutlich unter 35 Jahre aufweisen. – In traditionellen Bank- oder Versicherungsunternehmen dürften Durchschnittsalter und Zugehörigkeit deutlich höher liegen.

[Abbildung 3: Ausprägung der Neigung zur Konfliktvermeidung]

Die wesentliche Rollenänderung beim Übergang zur agilen Organisation ist der Verlust der entweder fachlichen oder disziplinarischen Führung bei der künftigen Führungskraft (entweder Product Owner oder Chapter Lead). Im Fall der Commerzbank wurde der Übergang dadurch erleichtert, dass der Product Owner personalwirtschaftlich auch als Funktion und nicht nur als Rolle definiert wurde. Dadurch wird eine höhere Stabilität und ein einfacherer individueller Change ehemaliger Linienführungskräfte ermöglicht.
Instrumente zur Vermeidung von Eskalationen bereitstellen
Mit der Anzahl der Konflikte steigt die absolute Anzahl der Konflikt-Eskalationen. Dabei bestimmen die Erfahrung beziehungsweise die bereitgestellte Unterstützung im Konfliktlösungsmanagement auf Team- und Führungsebene die Anzahl der Eskalationen. Mit zunehmender Reife der Organisation verläuft die Kurve flacher.
Organisationen mit einem hohen Anteil an Experten-Führungskräften benötigen besonders breite Schulungsprogramme für die künftigen Führungskräfte (Product Owner und Chapter Leads), um in Auseinandersetzungen sinnvoll vermitteln zu können. Die seit vielen Jahren bestehende Förderung von drei parallelen und gleichwertigen Laufbahnen – Projekt-, Fach- und Führungslaufbahn – mit der entsprechenden Personalentwicklung wirkt im Fall der Commerzbank sehr positiv, da Fachkräfte konsequent keine Führungsaufgaben wahrnehmen.
Mindestens genauso wichtig ist es, ein Verständnis für die Zuständigkeit der Konfliktlösung bei notwendiger Erweiterung des Kreises über die unmittelbar Betroffenen hinaus zu schaffen: Bei Konflikten innerhalb einer Zelle kommt als gemeinsame Führungskraft zunächst dem Product Owner die Rolle des Konfliktmediators zu. Eskalationsstufe sind die jeweiligen Chapter Leads bzw. der entsprechende Cluster Lead. Bei zellenübergreifenden Konflikten ist der Cluster Lead als gemeinsame übergeordnete Führungskraft der Product Owner und Chapter Leads die zentrale Konfliktausgleichsstelle.
Zur Erhöhung der Effektivität des Managements von Konflikten ist eine Etablierung oder systematische Ergänzung des eigenen Konfliktmanagement-Systems wichtig. Im Fall der Commerzbank gehören dazu neben den Agile Coaches in ihrer Rolle als Konfliktlotse auch die entsprechend sensibilisierten Relationship-Manager der Corporate-HR-Funktion sowie ein bereitstehender externer Mediatoren- und Coach-Pool. Da die Bank intern über eine hohe Zahl Mitarbeiter mit Mediatorenausbildung verfügt, ist die Nutzung der auch intern vorhandenen Vermittlungskompetenz in der Diskussion. Eine Option ist der Aufbau eines internen Mediatoren-Pools.

Risiko der Lähmung der Organisation minimieren

Jede Konflikt-Eskalation hemmt die eingangs beschriebene Effizienz und führt damit zu steigenden Konfliktkosten. Die Schwere der Auswirkung einer Konflikteskalation wird insbesondere von der Intensität der Abhängigkeiten zwischen den Netzwerkeinheiten und der Verfügbarkeit alternativer Abstimmungs- oder Mitigationsmechanismen determiniert.
Die agile Lieferorganisation der Commerzbank ist ein Baustein neben den traditionell strukturierten Bereichen des Vertriebs, der Zentralfunktionen und der Abwicklung. Für eine reibungslose Zusammenarbeit auch nach der Etablierung der agilen Struktur bedarf es der gezielten Adjustierung der Arbeitsweise auch in den anderen Bereichen – zumindest an den Schnittstellen zur neuen Organisation – um eine künftige Zusammenarbeit reibungslos zu ermöglichen. Zur Sicherstellung einer effizienten Verknüpfung der neuen Lieferorganisation mit Vertrieb und Abwicklungsorganisation wurden in einer Taskforce daher Schnittstellen explizit definiert und zum Teil mit technischen Plattformen hinterlegt.
Ein zentrales Ziel beim Zuschnitt der neuen Lieferorganisation war es zudem, so weit wie möglich sicherzustellen, dass eigenständige Einheiten mit disjunkten Zuständigkeiten für IT-Systeme und ausreichend Ressourcen für die eigenständige Leistungserstellung entstehen. Dazu kommt, dass mit dem „Road Manager“ eine Aufgabe geschaffen wurde, die den E2E-Gedanken erneut aufgreift und über die Eigensteuerung des Systems hinaus übergreifende Themen zusätzlich koordiniert und Zusammenarbeit fördert. Eine ebenso koordinierende Rolle können die Key Areas haben, die wiederum thematisch verwandte Cluster bündeln – wie die Key Area Kredit.
Darüber hinaus wurde ein vierteljährliches Abstimmungstreffen über alle Cluster beziehungsweise Key Areas geschaffen, in dem Prioritäten und Lieferbeziehungen unter Einbindung des Konzernvorstands festgelegt werden. Zu prüfen ist, ob zusätzlich auch innovative Produkte zur Unterstützung der dezentralen Konfliktlösung, wie die App des Siegers des Innovationspreises des Round Table Mediation und Konfliktmanagement der Deutschen Wirtschaft, „Lytt“ (eine Ratgeber-App für Konfliktfälle im Unternehmen), bei der Weiterentwicklung der Organisationen „Bank“ oder „Versicherer“ helfen.

Strategische Chance in Netzwerken

Die Umstellung eines Teils der Commerzbank-Organisation auf eine agile Struktur birgt neben den Flexibilitäts- und Effizienzvorteilen im herausfordernden Umfeld zusätzlich die Chance einer besseren Zusammenarbeit mit Fintechs über die Annäherung der Arbeitsweise. Hier ähneln sich die Überlegungen bei Banken und Versicherern. Die agile Organisation ist in diesem Sinne nicht nur Teil einer Strategie zur besseren Ausrichtung die dynamischen Kundenanforderungen, sondern Voraussetzung, um in künftigen Leistungs-Ökosystemen unter Einbindung von Fintechs eine führende Rolle zu übernehmen